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Emotionen wollen uns etwas sagen

Ich komme morgens in die Wohnung, in der ich mein Arbeitszimmer habe. Es ist noch dunkel. Mich überkommt das Gefühl, dass ich vielleicht in irgendeinen Hundehaufen hineingetreten sein könnte. Also ziehe ich die Schuhe gleich am Eingang aus. Der Lichtschalter ist leider nicht am Eingang, daher müssen meine Finger die Sehfunktion mit übernehmen. Meine Finger finden die Schnürsenkel, ziehen an der richtigen Stelle und schon ist der erste Schuh aus. Ich schnuppere an der Sohle. Alles gut. Alles sauber.

Ich stehe auf einem Bein und probiere die Schnürsenkel des zweiten Schuhs zu lösen. Mist! Ich habe an der falschen Stelle gezogen. Nun hab ich einen Knoten. Aaah! Leichte Aufregung in mir. Da kommt mir der Gedanke, dass ich das auch sportlich sehen kann: „Balancieren auf einem Bein und, ohne zu sehen, mit den Fingern einen Knoten zu lösen, ist eine nette Challenge!“ behaupte ich. Und tatsächlich, die Aufregung legt sich sogleich und Neugier und Konzentration stellen sich wieder ein. Doof nur, dass sich der Erfolg nicht so schnell, wie gehofft, einstellt. Nun schießt mir ein anderer Gedanke in den Kopf: „Verdammt nochmal, warum wurde der blöde Lichtschalter nicht am Eingang installiert?!“ Und sofort geht mein Puls hoch und ich werde echt sauer. Ich erinnere mich im Bruchteil einer Sekunde an andere Momente, als ich mich schon mal darüber geärgert hatte. Ich verliere das Gleichgewicht. Finde die Wand, um mich festzuhalten.

Mir ist klar, dass der Gedanke an den falsch installierten Lichtschalter mir gerade nicht weitergeholfen hat. Ich lasse ihn los und probiere es nochmal einbeinig blind. Der Erfolg stellt sich nicht gleich ein. Meine Geduld ist am Ende. Ich ziehe den Schuh mit Gewalt vom Fuß, auch wenn dadurch der Knoten fester werden wird. Doch der Schuh ist aus und ich kann nun zum Lichtschalter gehen. Licht an und schnuppern. Hmmm. Riecht schon etwas seltsam. Und ich kann da auch was sehen, was nicht ganz koscher aussieht. Wow! Da lag meine Intuition also richtig. Spannend! Gut, dass ich nicht mit dem Schuh durch die Wohnung gelaufen bin.

Wir können unsere Emotionen steuern

Diese Situation zeigte mir mal wieder deutlich auf, dass wir Meister*innen im Klein- und Großmachen unserer Emotionen sind. Wenn wir auf eine Biene treten und gestochen werden, können wir uns sagen, dass es für die Biene sicher viel schlimmer ist oder dass es viel heftigere Unfälle auf der Welt gibt und so unsere Aufregung reduzieren. Oder wir können uns sagen, dass wir diese Viecher hassen, weil es in diesem Jahr schon das dritte Mal ist, dass wir von einer Biene gestochen wurden. Das wird unsere Aufregung richtig anfeuern.

Biene als Projektionsfläche für Emotionen
Foto von Mariananbu auf Pixabay

Also, wir haben das alle drauf und setzen diese Fähigkeit mehr oder weniger bewusst ein.

Diese beiden Beispiele zeigen auch recht deutlich, dass es Sinn machen kann, eine Emotion, wie die Aufregung oder Wut, klein zu machen.

Wenn uns unsere Emotionen etwas sagen wollen

Doch kommt es häufig vor, dass wir denselben Mechanismus anwenden, wenn uns die Emotionen eigentlich etwas Wichtiges sagen wollen. Im obigen Beispiel, als ich mich über den Lichtschalter aufregte, merkte ich beim Nachspüren, dass es so einige Kleinigkeiten an meinem Arbeitsumfeld gibt, die mich stören. Und dass sich deshalb die Wut auch richtig groß anfühlte, obwohl es doch scheinbar nur um einen einzelnen, ungünstig installierten Lichtschalter ging. Ich bemerkte, dass es eine ganze Reihe von Dingen gab, die nicht so sind, wie ich sie mir wünsche: unregelmäßiges WLAN, Baugerüst vor dem Fenster, eingeschränkte Besuchsmöglichkeit, wenig Platz im Kühlschrank und noch ein paar Punkte mehr. Wow! Da jeder Punkt für sich allein, nicht sehr bedeutsam für mich ist, hab ich sie alle „geschluckt“.

Diese starke Wut, die mir da beim Schuhausziehen in den Körper schoss, war ja keine selbstgemachte Emotion, wie mein Versuch, die Situation schön zu malen. Und deshalb war sie bedeutsam. Denn hinter oder unter jeder starken Emotion liegt meist eine wertvolle Botschaft verborgen. In diesem Fall merkte ich deutlich, dass ich mir die Situation nochmal ansehen muss: Welche Vor- und Nachteile hat das Arbeitszimmer für mich? Wiegen die Vorteile die Nachteile wirklich auf? Kann ich die Nachteile durch mein Zutun minimieren? Lohnt sich für mich die Suche nach einem neuen Arbeitszimmer?

Wie an diesem Beispiel erlebe ich es häufig, dass es sich lohnt, hinter die Emotionen zu gucken, die uns tagtäglich überkommen. Meist wollen wir sie nicht haben, denn die sogenannten negativen Gefühle wie Angst, Wut, Trauer, Scham fühlen sich nicht gut an und stören uns beim Abarbeiten unserer zeitlich eng getakteten Aufgaben. Daher ist es gut, dass wir uns unsere Gefühle auch noch nachträglich ansehen und von ihnen profitieren können.

Täglich mit den eigenen Emotionen in Kontakt gehen

Buchtipp „Gefühle und Emotionen“ von Vivian Dittmar

Vivian Dittmar, die zum Thema „Gefühle und Emotionen“ tolle Bücher geschrieben hat sowie Führungskräfteschulungen und Vorträge hält, rät dazu, sich täglich oder zumindest mehrmals pro Woche die eigenen Emotionen anzuschauen und zu versorgen.

Mit „versorgen“ meint sie, dass wir dahintergucken, welche Bedürfnisse hier gesehen werden wollen, und für sie ggf. eintreten. In meinen Coachings oder in der Emotionalen Forschungsreise bringe ich Menschen bei, eine wohlwollende Haltung gegenüber ihren „negativen“ Gefühlen zu entwickeln und von ihnen im Alltag zu profitieren.

Frau Dittmar und andere Autor*innen haben in ihren Arbeiten herausgefunden, dass in unserer westlichen Sozialisation die Ratio oder das Denken hohe Wertschätzung erfährt, hingegen Gefühlen und Emotionen eher misstraut wird. Das mag ein Grund dafür sein, dass so viele weder im Elternhaus noch in der Schule gelernt haben, sich interessiert und wohlwollend ihren Gefühlen zuzuwenden.

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